Goethes Faust – Der Tragödie erster Teil als Hör-Spiel

mit Alexander Netschájew (Rezitation) und Antje Uhle (Klavier)

Dieses im Goethejahr 1999 gestartete Projekt wurde zum Überraschungserfolg – egal, wo wir hinkamen: Alt und Jung, Akademiker und Normalsterbliche zeigten sich beeindruckt von der Wucht und Intensität dieses Klassikers. „In der Schule haben wir den Faust zwar gelesen, aber kapiert hab ich ihn erst jetzt“, so die Aussage vieler junger Zuhörer – und genau das war unser Anliegen: das Werk entschlacken vom Ballast, der ihm im Laufe der Zeit von Germanisten und Regisseuren aufgeladen worden war. Die Süddeutsche Zeitung sprach sogar von einer „Neuentdeckung“ des alten Werkes. Die große Begeisterung und breite Zustimmung von allen Seiten fand ihren Ausdruck in zahlreichen Würdigungen: Wir erhielten sowohl den Publikumspreis (Kategorie Theater) der Gautinger Theatertage als auch den Förderpreis der Alten Brauerei Stegen am Ammersee, der alljährlich an ein oder mehrere Künstler verliehen wird.

Laden Sie uns ein – wir bringen Ihnen den Faust! Alles, was wir dazu brauchen, ist ein Flügel oder ein Klavier – alles Weitere ist Goethe durch das Sprachrohr des jungen Künstlerduos Netschájew/Uhle von pro arte München.



Hören statt sehen: "Faust" mal anders, mit Antje Uhle und Alexander Netschájew.
Mit teuflischem Humor
Gautinger Theatertage: "Faust" als musikalisches Hörspiel

Gauting – "Besonders aber laß genug geschehn! Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn. Wird vieles vor den Augen abgesponnen, da habt ihr in der Breite gleich gewonnen."
Alexander Netschájew ignorierte den Ratschlag des Direktors im "Vorspiel auf dem Theater". Alles, was auf der Bühne geschieht, findet nur in der Phantasie des Publikums statt. Netschájew las den Faust. Es gab fast nichts zu sehen, nur zu hören. Aber dieses Hör-Spiel war nichts geringeres als eine kleine Neuentdeckung des berühmtesten deutschen Dramas. Geplagte Schüler wenden sich noch heute mit Grausen, wenn sie das Signalgelb der Reclam-Hefte nur von weitem erspähen. Das ist schade. Denn Faust ist nicht nur Wissenschaftsdrama, weltumspannendes opus magnissimus oder titanische Reflektion eines Universalgenies, auch wenn viele Deutschlehrer das meinen. Faust ist vor allem eines: ein hervorragendes und spannendes Theaterstück. Und die Tragödie einer Frau, die durch ihre Liebe ins Verderben gerissen wird. Faust ist eine der traurigsten Liebesgeschichten der Weltliteratur, und das wird heute oft übersehen (Goethes Zeitgenossen empfanden das anders).
Alexander Netschájew weist den Weg zur Wiederentdeckung der Gretchen-Tragödie. Ihm gelingt das Kunststück, der Tragödie ersten Teil vorzulesen, ohne dass man sich einen Moment langweilt. Ja, man erlebt das Stück intensiver, als wenn es aufwendig bebildert und vorgespielt wäre. Dazu bedient er sich des Kunstgriffs, den Text durch kluge Striche auf die Faust- und Gretchen-Beziehung zu konzentrieren. Das bunte Beiwerk, das für einen Einzelnen nur schwer zu lesen wäre - Schülerszene, Auerbachs Keller, Hexenküche, große Teile der Walpurgisnacht – fällt weg. "Zuneigung" und "Vorspiel auf dem Theater" ebenfalls, dafür fügt er den "Prolog im Himmel" interessanterweise an die Stelle zwischen Mephistos erstem Auftauchen bei Faust und dem Pakt ein. Alleine gegen den Faust – das wäre eine zu harte Aufgabe. Netschájew hat Antje Uhle zur Seite, Pianistin, Komponistin und mitunter Mitspielerin. Beide greifen in die Trickkiste, als Faust den Erdgeist heraufbeschwört. Uhle rührt percussive Eisenschalen, die mystische Töne von sich geben. Netschájew ruft in den offenen Flügel; der Hall verleiht der Stimme des Geistes Bedrohlichkeit. Die Saiten werden gerissen und geklüppelt – Spukstunde im Studierzimmer. Den Wagner liest er als Schleimer mit rollendem "R". Als die Osterglocken den Doktor vom Selbstmord abhalten, beschwört Antje Uhle mit einer melancholischen Melodie Fausts Kindheitserinnerungen. Die Erde hat ihn wieder.
Die Begegnung mit dem schwarzen Pudel, dessen Kern der Teufel ist, illustriert Uhle mit sphärisch lauernden Klängen und Saitenjaulen. Geschickt steigern die beiden mit Lautmalerei und Klängen die Spannung, bis der Teufel hinter dem Ofen hervorkommt. Netschájew liest den Mephisto zunächst servi, nett unterwürfig. Die Dämonie entwickelt sich erst später, aber dann mit Macht. Und der teuflische Humor sorgt dafür, dass dieses Hörspiel teilweise richtig lustig ist.

Jan Bjiörn Potthast
(Feuileton Süddeutsche Zeitung Nr. 246
Samstag/Sonntag, 23./24. Oktober 1999)

zurück